Hildegard Wohlgemuth und ihr Gespür für Ruhrgebietsmelancholie
Die Schriftstellerin Hildegard Wohlgemuth, die bereits 1994 verstarb, stammte aus der Stadt Wanne-Eickel, die mittlerweile von Herne eingemeindet wurde. Wer schon einmal in Wanne oder Eickel war, weiß, dass sich das Ruhrgebiet dort von seiner typischsten Seite zeigt: Graue Straßenzüge, in jeder Himmelsrichtung erkennt man die Schornsteine der umliegenden Industrie. In den Siebzigern waren all diese Merkmale noch viel präsenter, da die Schwerindustrie damals noch eine weitaus größere Rolle im "Kohlenpott" spielten. 1971 schrieb Hildegard Wohlgemuth das Gedicht "Industriestadt sonntags abends" und setzte ihrer Heimat damit ein Denkmal. Besonders gut ist dies zu erkennen, wenn Sie das Gedicht Zeile für Zeile analysieren.
Industriestadt sonntags abends - eine Analyse
Bevor Sie mit der Interpretation beginnen, sollten Sie beachten, dass das Gedicht sich nicht reimt und auch keinem klaren Versmaß folgt. Zwar sind Ansätze von Anapäst und Jambus zu erkennen, aber es ergibt sich kein Rhythmus, keine klare Form. Allein schon dies unterstreicht perfekt das natürliche Chaos in den wild um die Industrie gewachsenen Ruhrgebietsstädten.
- Dann erkennen Sie schnell, dass jede Zeile ein neues Bild erzeugt, einen neuen Eindruck aus der Industriestadt. Dabei geht Wohlgemuth nicht systematisch vor, sie beschreibt mal Dinge, die am Himmel stattfinden, dann wieder ganz Irdisches.
- Schon in der ersten Zeile fällt auf, dass die Stadt selbst bei Wohlgemuth personifiziert wird. Dort "bürstet sie das Rauchhaar nach oben" und man hat sogleich das Bild aufsteigenden Rauches vor Augen.
- So geht es dann auch weiter: In der zweiten und dritten Zeile wird beschrieben, wie die Stadt sich bewegt, in den Zeilen danach, wie sie sich in Neontrikot und Grüngürtel "kleidet".
- In der zweiten Strophe geht es dann ums "Gesicht" der Stadt, faltig von Sorgen, doch dann folgen positivere Bilder: Sehnsucht unter dem Flutlicht der Fußballfelder und die Hoffnung auf einen Lottogewinn am Kiosk erzeugen ein Gefühl von Heimeligkeit.
- Durch diese kleinen Momentaufnahmen, die die Autorin durch starke und kreative Substantive wie "Schlothals" und "Stundenfrieden" beschreibt, entsteht stimmig eine Vision vom Leben in der großen, staubigen Industriestadt.
- Ruhig und melancholisch scheint es vonstatten zu gehen, und obwohl die Stadt schmutzig und sorgenvoll ist, gibt es Momente des Friedens und der Hoffnung im Kleinen.
- Zu guter Letzt ist auch noch der Titel interessant, denn mit dem Sonntag abend verbinden die meisten Menschen Freizeit. In diesem Gedicht jedoch rauchen die Schlote - eine Anspielung auf den Fleiß der Arbeiter im "Pott".
Fazit: Schauen Sie sich eine Beschreibung des Lebens der Arbeiterklasse im Ruhrgebiet an, und zwar in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts - und schon werden Sie verstehen, was die Autorin in "Industriestadt sonntags abends" beschreibt. Dies tut sie so treffend, dass jeder Ruhrgebietsbürger gleich seine Heimatstadt und deren Stimmung erkennen muss.
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