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Das Dionysische Prinzip - Leidenschaft, die Leiden schafft

Inhaltsverzeichnis

Der griechische Gott Dionysos ist Symbol alles Rauschhaften.
Der griechische Gott Dionysos ist Symbol alles Rauschhaften.
In der griechischen Mythologie tritt er als Gott der Weinrebe in Erscheinung: Die Rede ist von Dionysos - dunkel, faszinierend und leidenschaftlich. Dem Philosophen Friedrich Nietzsche war er mit eben diesen Attributen Anstoß für eine polare Kunsttheorie. Im Geiste des Dionysischen ist Kunst die Leidenschaft, die Leiden schafft. Bis in die Moderne Literatur hat sich Nietzsches Dionysisches Prinzip vorgekämpft.

Aus großem Leid wird große Schönheit - rezeptionsorientierte Kunst

Sie befinden sich auf einer Kunstausstellung. Das erste Bild, das Sie sehen, zeigt eine makellose Blume. Das Bild daneben stellt eine Szenerie größter Schmerzen dar. Was berührt Sie mehr?

  • Großem Leid entstammt größtmögliche Schönheit - so sagt es ein Sprichwort. Etwas Wahres ist dran, denn solange etwas einfach nur schön ist, kann es zwar gefallen, aber der Effekt auf den Betrachter bleibt auf die Oberfläche beschränkt. Fehlerlose Schönheit kann nicht faszinieren. Faszinierend wirkt erst der Makel. Das Grausame, Dunkle, Abscheuliche dagegen durchbricht die Oberfläche und dringt tief in den Betrachter vor.
  • Diesen Anspruch hat Kunst. Künste wollen berühren und bewegen. Kunsttheorie beschäftigt sich seit ihrem Anbeginn mit der Frage nach dem "Wie?". Das beschriebene Prinzip der großen Gefühle aus großem Leid spielt dabei eine übergreifende Rolle.
  • Während Epochen wie der Klassizismus das richtige Maß und die perfekte Ordnung als Ausgangspunkte für die Schönheit der Künste voraussetzen, wird Richtung Moderne das Chaotische, Andersartige, sogar Hässliche zum entscheidenden Kunstcharakter. Über Romantik bis Expressionismus: Die Attribute von Leid und Leidenschaft überholen die von schönem Maß und beschwingter Leichtigkeit. Rezeptionsorientiert wird das Kunstwerk nach der Schwere des Effekts beurteilt, den es auf ein Publikum haben kann.
  • Dementsprechend stellt sich in der Literatur schon während der Antike die Tragödie vor die Komödie: Das klassische Drama baut auf Komponenten wie der Fallklausel auf. Ein Protagonist, der alles hat und in seinem Leid alles verliert, berührt das Publikum tiefer als einer, dem Märchenhaftes widerfährt, der nie etwas hatte oder gar nichts verliert.

In der Moderne greift der Philosoph Friedrich Nietzsche mit seiner "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" das beschriebene Kunstverständnis wieder auf und stellt es der klassischen Schönheit und Ordnung der Künste gegenüber. Unter der Gestalt der griechischen Götter Apoll und Dionysos fasst er Hunderte Jahre Kunstgeschichte zusammen.

Ungleiche Brüder - Apoll und Dionysos bei Nietzsche

In der griechischen Mythologie werden Zeus zwei ungleiche Söhne geboren: Der eine Apoll, der andere Dionysos.

  • Während Dionysos aus dem Leib seiner toten Mutter geschnitten wird und von Geburt an mit dem Dunklen vernetzt ist, steht Apoll für Perfektion. Seine Verbundenheit zum Licht und sein angeborenes Gefühl für das perfekte Maß stehen der Maßlosigkeit gegenüber, die Dionysos nachgesagt wird.
  • Ähnlich der biblischen Brüder Kain und Abel stehen die Söhne des Zeus für Licht und Dunkel, Ordnung und Chaos, außen und innen. Apoll ist als Lichtgott, Gott des äußeren Scheins, während der rauschhafte Dionysos mit dem form- und ordnungslosen Inneren, mit unsichtbarem Gefühl und der Wucht von mitunter schadhaften Emotionen verbunden wird.
  • Zusammen mit Richard Wagner depersonalisiert Nietzsche Apoll und Dionysos zu den ihnen nachgesagten Attributen und Prinzipien.  Die beiden Gegensätze seien in der griechischen Tragödie zum ersten Mal aufeinander getroffen und würden sich seither kontinuierlich gegenseitig übersteigen.
  • Die alternierenden Kunstepochen erklären sich Wagner und Nietzsche nach diesem Prinzip. Renaissance und Klassizismus beispielsweise seien mit dem Äußeren verhaftet. Somit wären sie Manifestationen von Schönheit und Ordnung, kurz: Des Apoll. Barock, Romantik und Expressionismus dagegen seien Ausgeburten des Unsichtbaren, des Inneren, kurz: Dionysischen. Die Kunst sei hier Leidenschaft, der Künstler leidender Schöpfer.
  • An Arthur Schopenhauers Philosophie orientiert, beschreibt Wagner das Dionysische als das wahre Kunstprinzip. Das Unsichtbare, Formlose und Leidenschaftliche könne dem Künstler zu einer Depersonalisierung verhelfen. Somit könne das dionysische Kunstwerk eine Wahrheit transportieren, die unabhängig von allem sei.
  • Dionysische Kunst könne die Welt an sich erfahrbar machen und Künstler wie Betrachter das "Alles" erfahren lassen. Sie erwecke ungleich packendere Emotion als das formgebundene Schöne. Emotion greife hier jedoch das Schädliche mit ein. Große Emotion durch Kunst sei so stets mit dem Dunklen vernetzt. Große Leidenschaft schaffe immer auch großes Leiden.

Hesse, Benn, Mann - Dionysisches Prinzip in der Literatur

Während ihres Schaffens, doch sogar lange nach ihrem Tod, nimmt Wagner und Nietzsches Dionysisches Prinzip Einfluss auf die Literatur.

  • 1912 beschreibt Thomas Mann mit "Tod in Venedig" die Reise eines apollinisch lebenden Schriftstellers. Auf der Suche nach Inspiration verlässt er seine alten Wege und flieht sich ins Chaos. Während seiner gesetzlosen Zeit gelingt es ihm, sich selbst zu entfesseln. Rausch, homosexuelle Liebe und Losgelöstheit führen ihn zu großer Inspiration, doch gleichsam zu großem Leid und schließlich dem Tod, der im Sinne des Dionysischen die endgültige Depersonalisierung und damit das Ziel bedeutet.
  • Dem Tod als Depersonalisierung gibt desselben Jahres auch Expressionist Gottfried Benn einen hohen Stellenwert. In seinen "Morgue"-Gedichten beschreibt er den Tag in einer Leichenhalle. Die strikte Trennung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Innerem und Körper, gipfelt bei Benn in der Beschreibung der körperlichen Form als kaltes Gefängnis und Trennung von Mensch und wahrem Leben.
  • Sieben Jahre darauf beschreibt Herrmann Hesse in "Damian" die Hin- und Hergerissenheit eines Jugendlichen zwischen dem sicheren, ordentlichen Elternhaus und dem regellosen, unvorhersehbaren, entfesselten Leben außerhalb.
  • Obwohl das Dionysische den Künstler zum Künstler macht, tut es dem Künstler selbst nicht gut. Als ein Mann, der dieses Dilemma kennt, versucht Hesse in dem Roman über die Person des Damian einen Mittelweg zwischen Dionysos und Apoll, zwischen Kunst und Leben, zu beschreiben.
  • Beide Prinzipien seien unverzichtbar. Nietzsche und Wagner lägen falsch, wenn sie von der Notwendigkeit einer Entscheidung ausgingen, weil eine solche abermals eine Beschränkung der eigenen Person und Kunst bedeute.
  • Hesse gibt einen Blick auf die Literatur: Niemandem ist es wohl jemals gelungen, das Dionysische ohne das Apollinische zu beschreiben. Ohne das eine existiert das andere nicht. Für moderne Wissenschaftler ein Grund, die Götter Apoll und Dionysos als zwei Seiten derselben Person zu erkennen.

Rausch des Dionysos - das Leiden des Künstlers

Kunst ist Emotion. Kunst ist Leidenschaft. Kunst ist Rausch.

  • Ohne das Dionysische kann Kunst nicht packen. Im Geiste des griechischen Gottes kommt künstlerisches Schaffen für Künstler und Publikum einem Rausch nahe. Kunst macht süchtig - wie jede andere Sucht, birgt sie damit Gefahren in sich. Nietzsche bezeichnet als solche das große Risiko, sich vollständig in ihr zu verlieren.
  • Das Dionysische kommt damit gleichzeitig vollem Leben und Lebensflucht gleich.Wie das Barock-Dilemma zwischen Lebenssucht und Todessehnsucht liegt dem rein Dionysischen ein kaum erträgliches Gefühl der sehnsuchtsvollen Zerrissenheit zu Grunde.
  • Nicht nur die Kunst kann nicht ohne das Dionysische. Dass dem so ist, liegt daran, dass ohne das Dionysische kein Leben auskommt. Leben ist Chaos - ein Grundprinzip der Welt. Nichts steht Dionysos näher als die Chaostheorie.
  • Die einzige Ordnung der Welt ist das Chaos. Geht man davon aus, dann behält Hermann Hesse Recht: In Dionysos steckt Apoll und anders herum. Sogar Nietzsche selbst stellt gegen Ende seines Schaffens die praktische Unmöglichkeit eines rein Dionysischen Lebens fest. 

Kunst ist Leidenschaft, doch Leiden schaffen muss sie nicht. Wie Hermann Hesse erkannt hat, wartet künstlerische und menschliche Erfüllung erst in der Ganzheitlichkeit. Weder in Yin, noch Yang, sondern lediglich inmitten des Yin und Yang.

helpster.de Autor:in
Sima Moussavian
Sima MoussavianFür Sima liegt die Schule noch nicht weit zurück. Sie erinnert sich noch gut an die Inhalte. In ihrer Freizeit lernt Sima gerne neues und probiert sich dabei auch im Heimwerken.
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