Inhalt - "Besuch vom Lande" auf dem Potsdamer Platz
Inhaltlich beschreibt Kästners Gedicht einen Aufenthalt in Berlin.
- Der Potsdamer Platz - damals Knotenpunkt für Verkehr und Handel - steht im Mittelpunkt der Handlung und wird zum Ankunftspunkt für die "Besucher vom Lande". Um die geht es nachfolgend weniger als um Berlin an sich.
- Die Lichter und Geräusche der Großstadt überlasten die unbeholfenen Landbewohner. Hektik und wildes Leben verwirren sie. Berlin wird zu einem Protagonisten, während das lyrische Ich durch einen neutral beschreibenden Erzähler ersetzt wird und die Besucher vom Lande Stück für Stück hinter die Eindrücke der Großstadt zurücktreten.
- Hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Lande und der großen Stadt sehen die Landbewohner bald keinen Ausweg mehr. Sie wollen die Stadt wieder verlassen, doch lebend gelingt es ihnen nicht: Stattdessen werden sie schließlich sogar überfahren.
Eine Analyse des Gedichts bedarf neben der Inhaltszusammenfassung selbstverständlich einer Beschäftigung mit seiner Form.
Formale Mittel - Erich Kästners eigene Ordnung
Der Inhalt des Gedichts wird von einer Form zwischen Ordnung und Chaos zusammengehalten.
- Der Leser hat es mit einem vierstrophigen Werk zu je fünf Versen zu tun. Ein Metrum ist gegeben, aber es handelt sich hierbei nicht um ein standardisiertes Versmaß. Kästner hält stattdessen einen eigenen Rhythmus ein.
- Untypischerweise für moderne Gedichte wird davon abgesehen auch das Schema der Versverteilung bis zum Schluss verfolgt, was eine gewisse Ordnung suggeriert, die für die Lyrik des Expressionismus so nicht typisch war. Ähnliches gilt für Kästners Reimschema.
- Jede Strophe ist nach der Struktur ABAAB aufgebaut. Erst der unreine Reim "stähnt", "dröhnt" und "gewöhnt" bricht den Leseautomatismus in der dritten Strophe und lässt den Leser hier ins Stocken geraten.
- Auffällig ist Kästners Versbau, denn die Strukturen der einzelnen Strophen harmonieren miteinander. Der letzte Vers einer Strophe ist beispielsweise immer ein kurzer Aussagesatz. Bis auf die letzte Strophe ist der dritte Vers jeweils eine Beschreibung von auditiven und visuellen Eindrücken und der erste Vers geht je auf die Empfindungen der Besucher während ihrer aktuellen Tätigkeit ein. Ausnahme ist auch hierbei die dritte Strophe, deren erster Vers bereits auditive Eindrücke aufgreift.
- Während die ersten beiden Strophen aus abgehakten, relativ kurzen Sätzen aufgebaut sind, leben dritte und vierte Strophe von Enjambements. Der erste Satz der dritten Strophe beispielsweise umgreift zwei Zeilen. Selbiges gilt für den Schlusssatz des Gedichts.
Die Form zwischen Ordnung und Chaos wird von Kästners rhetorischen Mitteln gestützt.
Rhetorische Mittel - Berlin als Lebewesen
Mit Stilmitteln wie der Personifizierung macht Kästner dem expressionistischen Rahmen des Textes alle Ehre.
- Der Autor setzt in seinem Gedicht auf Adjektive. Schon die einleitenden Sätze sind trotz ihrer Kürze übervoll mit zustandsbeschreibenden Passagen wie "finden (...) zu laut" oder "verwirrt". Der letzte Vers einer Strophe kann hierbei je als eindrucksbeschreibender Parallelismus zu dem der darauffolgenden verstanden werden.
- Kästner nutzt in seinem Werk ferner ein Polysyndeton. Auffällig oft verwendet er das Wörtchen "und". Diese Reihung vernetzt in erster Linie eine adjektivhaltige Zustandsbeschreibung mit der anderen. Die betreffenden Zeilen steigern sich über einander hinaus und resultieren in der letzten Strophe in einem Klimax - die Besucher vom Lande werden überfahren.
- In der zweiten Strophe verwendet Kästner eine Antithese. Er spricht davon, dass die Besucher vom Lande "weder aus, noch ein" wissen und stellt damit zum Zweck der Kontrastierung zwei gegensätzliche Formulierungen gegenüber.
- In der dritten Strophe des Gedichts kommt es durch Verben wie "stähnt (stöhnt)" zu einer Personifikation der eigentlich unbelebten Großstadt. Berlin tritt ab diesem Zeitpunkt komplett vor die Besucher vom Lande. Die Stadt wird zu einer Person erhoben, die einem wilden Lebewesen mit "funkelnden Augen" ähnlich Angst in den Besuchern auslöst.
Sie haben mit Inhalt, formalen und rhetorischen Mitteln nun die nötigen Informationen, die Sie zur Interpretation des Gedichts benötigen. Die drei Bereiche müssen abschließend lediglich sinnvoll zusammengeführt werden.
Interpretation - Industrialisierungskritik
Mit "Besuch vom Lande" übt Erich Kästner Kritik an der fortschreitenden Industrialisierung deutscher Großstädte, die während der Entstehungszeit des Gedichts ein durchaus relevantes Zeitthema war.
- Wiedergegeben wird der Industrialisierungsbezug schon in der ersten Strophe: Der zweite Vers bezieht sich mit der Metapher "die Nacht glüht auf Kilowatts" beispielsweise auf den vermehrten Einsatz der Glühbirne. Der Knotenpunkt des deutschen Handels "erleuchtet" damit unter technischen und industriellen Neuerungen.
- Als augenscheinliche Protagonisten werden die Besucher vom Lande von der Großstadt und ihrem industriellen Fortschritt überfordert. Die Schnelllebigkeit und das Chaos des Fortschritts gibt Kästner durch formale Mittel wie kurze Sätze und unregelmäßiges Metrum wieder. Die Hin- und Hergerissenheit der Menschen wiederum wird durch die antithetischen Wendungen und eine tieferliegende Ordnung in Reim und Rhythmus gestützt.
- Reihungen mit "und" machen deutlich, dass die Neuerungen den Besuchern vom Lande deutlich zu viel sind. Kästner macht die Industrialisierung so zu einem nicht enden wollenden Chaos, das die Protagonisten seines Gedichts am Ende sogar umbringt. Stück für Stück verliert der Mensch in seinem Gedicht an Relevanz.
- Hier wird kritisiert, wie sehr der Bürger und sein Befinden im Angesicht des industriellen Fortschritts ausgeblendet wird. Auch die Abwesenheit eines lyrischen Ichs und der neutrale Erzähler stützen dieses Gefühl.
- Besondere Aufmerksamkeit wird unterdes auf die dritte Strophe gelenkt, deren Aufbau wie weiter oben beschrieben nicht mit dem der anderen Strophen übereinstimmt. Da die Stadt in genau diesen Zeilen personifiziert wird, ist die Erhebung der Industrie über den Menschen das Moment, das als übergeordneter Schluss der Interpretation beschrieben werden darf.
- Wollen Sie Ihre Aufgabe so gut wie möglich erfüllen, sollten Sie abschließend ferner die expressionistischen Merkmale des Textes hervorheben. Neben der Adjektivlastigkeit ist vor allem die Ästhetik des Hässlichen und Grausamen zu nennen, die schon in der ersten Strophe durch den Auftritt der Prostituierten und noch in der letzten durch das grausige Ende hervortritt.
"Besuch vom Lande" wird so zur recht typisch expressionistischen Industrialisierungskritik und kann die Relevanz von Kästner als modernem Autor sinnbildlich erklären.
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