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Warum ist Emilia Galotti ein bürgerliches Trauerspiel?

Tragödie statt Komödie: die Emanzipation des Bürgers
Tragödie statt Komödie: die Emanzipation des Bürgers
Das Drama "Emilia Galotti" von Gotthold Ephraim Lessing gehört seit langer Zeit zum Kanon des Deutschunterrichts. Neben Friedrich Schillers "Kabale und Liebe" ist es eines der bedeutendsten Beispiele für ein bürgerliches Trauerspiel in Deutschland.

Bürgerliches Trauerspiel: Die wichtigsten Merkmale

Das bürgerliche Trauerspiel ist die Gattung der deutschen Aufklärung und weder ohne die Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert noch ohne Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) denkbar. Einige wichtige Merkmale der Gattung sind hier in sechs Punkten  zusammengefasst, um sie weiter unten auf "Emilia Galotti" anzuwenden:

  • Gemäß der Bezeichnung sind Personen aus dem Bürgertum für ein bürgerliches Trauerspiel typisch. Das war zu Lessings Zeiten ein Bruch mit der klassischen Tragödie, wie sie Johann Christoph Gottsched (1700-1766) noch in seiner Theaterreform geltend machte. Entsprechend der Ständeklausel durften dort nur Personen höheren Standes spielen, um Schicksal und dramatische Fallhöhe des Helden nachvollziehbar darstellen zu können. Der Bürger trat bis dato nur in Komödien auf.
  • Lessing lockerte nicht nur die Ständeklausel und den strengen dramatischen Aufbau der Tragödie, wie die Drei-Einheiten-Lehre, wobei die Handlung an Gewicht gewann. Statt in Alexandrinern sind die Trauerspiele in Prosa verfasst.
  • Im Mittelpunkt stehen nicht mehr ständische, sondern moralische Werte, wie Tugend, Sittlichkeit und Würde. Thematisiert werden die auf Humanität basierenden Anschauungen des Bürgers, die sein Leben und seine Werte prägen.
  • Kein von außen auf den Helden treffendes Schicksal, sondern die Charaktere selbst, ihre Handlungen und Entscheidungen in der Gemeinschaft, motivieren den Gang des bürgerlichen Trauerspiels, machen ihn wahrscheinlich und nachvollziehbar.
  • Die Personen sollen dadurch realistisch wirken und Identifikationsmöglichkeiten bieten. Auf diese Weise kann der Leser und Zuschauer mit ihnen empfinden und Mitleid haben, gerade weil sie sich als Menschen in ihrer Nur-Menschlichkeit zeigen. Empfindsamkeit löst den bis dahin vorherrschenden Rationalismus ab.
  • Als literarisches Medium, in dem sich das Bürgertum wiedererkannte, beinhaltet ein bürgerliches Trauerspiel neben Familienkonflikten auch Ständekonflikte und Gesellschaftskritik. Letztere entlädt sich primär am Adel. Die Gattung selbst ist ein Mittel, mit dem sich das Bürgertum gegenüber dem Adel behauptet.

"Emilia Galotti" ist beispielhaft für die Gattung

Lessings bürgerliches Trauerspiel "Emilia Galotti", 1772 uraufgeführt und basierend auf der Virginia-Legende, ist eines der wichtigsten seiner Gattung. Die Analyse folgt Punkt für Punkt den oben genannten sechs Merkmalen:

  • Im Zentrum der Handlung stehen Emilia Galotti und ihr Vater Odoardo Galotti. Sie repräsentieren das Bürgertum und sind dem Prinzen von Guastalla als Vertreter der Aristokratie direkt gegenübergestellt.
  • "Emilia Galotti" ist durchweg in Prosa geschrieben und spielt an wechselnden Schauplätzen binnen eines Tages, v. a. im Haus der Galottis und dem Landsitz des Prinzen - damit ist die Einheit des Ortes und der Zeit nicht mehr gegeben. Die Einheit der Handlung, ihre Wahrscheinlichkeit, ist ausschließlich von Bedeutung.
  • Grundthema des Stücks ist die Verführung Emilias durch den Prinzen. Während sie, entsprechend den Erziehungsmaßstäben und Moralvorstellungen ihres Vaters, ganz und gar religiöse Tugendhaftigkeit, Sittsamkeit und Unschuld ist, aber ebenso schwach und angreifbar, ist der Prinz das genaue Gegenteil von alledem: korrupt und rücksichtslos, Lebemann und Don Juan, der vor Machtmissbrauch nicht zurückschreckt.
  • Eigenmächtig lässt er das Objekt seiner Begierde entführen, was die Handlung antreibt. Aber schließlich sind das Verhalten Emilias, ihre Sorge, Schuld auf sich zu laden, und das Handeln ihres Vaters, der die Familienehre durch den Prinzen bedroht sieht, aber zögert, etwas gegen ihn zu unternehmen, wesentliche Motivatoren der Handlung.
  • Gerade Emilia wird durch ihre enge Bindung an das väterliche Elternhaus und das Drängen des Prinzen auf eine harte Probe gestellt. Ihr Hin- und Hergerissensein zwischen den Avancen des Prinzen, denen sie nachzugeben droht - "Ich habe Blut, […] so jugendliches, so warmes Blut" -, und den Moralvorstellungen ihres Vaters, die sie internalisiert hat - "wie mein Vater will, dass ich werden soll"; ihre Unfähigkeit, selbstständig zu entscheiden, die sie den Tod vorziehen lässt: all das affiziert den Leser am stärksten und regt sein Mitleid an.
  • Kritik wird in dem bürgerlichen Trauerspiel ganz klar am Prinzen und mithin am Adel geübt. Er missbraucht seine Macht frei nach seinem Willen und übernimmt dafür keine Verantwortung. Stattdessen schiebt er sie seinem Kammerherrn Marinelli zu: "[M]üssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?" - aber auch über Odoardo ließe sich kritisch diskutieren. Die Unselbstständigkeit Emilias wurzelt in seiner, aus Liebe zwar, Gehorsam fordernden Autorität als Familienoberhaupt. Und umgekehrt bleibt er selbst als Bürger, im Gegensatz zu Graf Appiani, in seiner Rolle des gehorsamen Untertans stecken. Er wehrt sich nicht aktiv gegen die ständische Ordnung und die Korruptheit des Adels. Seine bürgerlichen Moralvorstellungen bleiben unhinterfragt und starr und wiegen schließlich mehr als das Leben seiner Tochter.

Beachten Sie: Die hier gemachten Angaben können nur einen groben Überblick darüber verschaffen, warum "Emilia Galotti" ein bürgerliches Trauerspiel ist. Tiefer gehende Fragestellungen, wie zum Beispiel hinsichtlich der Gesellschaftskritik, lassen sich im Deutschunterricht eingehend diskutieren.

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