Gendefekt Rot-Grün-Schwäche
Meine Störung blieb lange unerkannt, denn sie ist nicht sehr intensiv.
- Wie matt ein Daltonismus-Betroffener die beiden Farben wahrnimmt, ist relativ individuell. Zumindest matter als ein Normalsichtiger: Bei mir liegen sie unter einem Grauschleier. Als verschiedene Graueindrücke mit einer leichten Farbnuance unterscheiden kann ich sie aber schon.
- Etwas extremer ist die vollständige Rot-Grün-Blindheit. Sie lässt den Betroffenen auf roten und grünen Flächen keinerlei Farbnuancen ausmachen. Bei der Schwäche dagegen bleiben Nuancen verschleiert erhalten.
- Diagnostizierbar sind beide Varianten über einen Sehtest von Ishihara Shinobu. Augenärzte sprechen von einem angeborenen genetischen Defekt, der mit einer Unterproduktion des Stoffes Opsin zu tun hat.
- Auf der Netzhaut liegen verschiedene Fotorezeptoren. Ihre Aufgabe ist es, Lichtimpulse der Umgebung umzuwandeln, damit das Gehirn des Menschen etwas mit ihnen anfangen kann.
- Die sogenannten "Stäbchen" helfen bei der Unterscheidung von Hell und Dunkel. Für die Farbwahrnehmung sind die Zapfenrezeptoren der Netzhaut verantwortlich. Von ihnen gibt es drei verschiedene: die L-, M- und S-Zapfen.
- Der S-Zapfen ist für die Blau-Wahrnehmung verantwortlich. Langwelliges Licht betrifft dagegen den L-Zapfen, der für die Rot-Wahrnehmung zuständig ist. Mittelwelliges Licht aktiviert den M-Zapfen und wird als Grün wahrgenommen. Dann habe ich also nicht alle Zäpfchen auf der Netzhaut?!
- Keine Panik - daran liegt die Rot-Grün-Schwäche nicht. L- und M-Zapfen arbeiten viel mehr mithilfe des Proteins Opsin und eine Unterversorgung führt dazu, dass sie nur bis zu einem gewissen Grad aktiv werden. Auf diese Weise kommen im Gehirn weniger Rot-Grün-Eindrücke an.
- Wie auch die Blau-Gelb-Schwäche, ist die verbreitetere Rot-Grün-Schwäche eine X-chromosomal rezessive. Auf dem x-Chromosom, um genau zu sein dem 23., liegen Gene für rot- und grünempfindliches Opsin. Ein Fehler beim Crossing-over - dem Austausch zwischen väterlichen und mütterlichen Chromosomen - lässt eine fehlende Sensibilität für die Farben entstehen. Heilbar ist die Schwäche daher nicht, denn sie ist im Erbmaterial verankert.
- Frauen sind seltener von der Störung betroffen als Männer. Grund hierfür ist folgender Zusammenhang: Leidet eine Frau an der Schwäche, dann tragen beide X-Chromosomen den Defekt. Ihren Söhnen wird die Schwäche daher sicher weitervererbt. Im Genotyp (gesamte Erbinformation) ihrer Töchter ist die Schwäche zwar vorhanden, im Phänotyp (übertragene Struktur) durchsetzen muss sie sich aber nicht.
- Wenn der Vater hingegen an der Schwäche leidet, erkrankt keines der Kinder. Töchter können den Genotyp aber an die nächste Generation weitergeben. Sie tragen heterozygote Zellen: Das heißt, obwohl sich das gesunde Gen durchgesetzt hat, tragen sie "verdeckt" ein Gen mit dem Defekt, das sie möglicherweise an die Folgegeneration weitergeben.
Farbenblind, das ist keine Krankheit, sagen einige: Es ist bloß eine Wahrnehmungsstörung. Das mag stimmen, wobei, Moment ... Vielleicht ist es auch keine Störung. Vielleicht sieht man die Welt mit der Sehschwäche auch einfach, wie sie eigentlich ist.
Leben mit farbigem Grau
Wo der Rot-Grün-Schwache recht hat, hat er vielleicht recht, so denke ich, wenn ich mich mit meiner Wahrnehmungsabweichung beschäftige. Farben als solche gibt es nämlich gar nicht.
- Der Wahrnehmungsmechanismus von Lichteindrücken verschiedener Wellenlänge lässt für Menschen das Farbspektrum entstehen, wie man es kennt. Farbwahrnehmung ist bis zu einem gewissen Grad aber immer individuell.
- Das ist zum Beispiel schon erkennbar, wenn man die Farbwörter verschiedener Kulturen betrachtet. Im Russischen gibt es zwei völlig verschiedene Worte für helles Blau und sattes Blau. Aber sogar innerhalb eines Landes nehmen die Leute Farben unterschiedlich wahr.
- Was einer als Rot erkennt, ist für den anderen vielleicht schon Orange. Für mich ist es nichts von beidem, sondern eher Grau. Alleine bin ich damit nicht, denn Hunde zum Beispiel sehen alle "Farben" als Grautöne verschiedener Lichtintensität.
- Na dann ist es ja gut, denke ich mir: Wenn Hunde grundsätzlich auf diese Weise sehen und trotzdem keine Probleme haben, dann werde ich wohl auch durch den Alltag kommen. Für mich trifft das einschränkungslos zu, denn ich sehe die beiden Farben ja: Matt, aber ich kann sie unterscheiden.
- Bei einer ausgeprägten Rot-Grün-Schwäche können dagegen Schwierigkeiten entstehen. Obwohl Rot und Grün eigentlich nur Wellenlängen sind, hat der Mensch sie als Farben in seinen Alltag integriert, denn in seiner durchschnittlichen Wahrnehmung gibt es sie als Farben ja auch.
- Eines der relevantesten Beispiele: die Ampel. Eine extreme Rot-Grün-Schwäche kann hier für Verwirrung sorgen. Gefährlich wird es aber auch in diesem Fall nicht im Verkehr. Schließlich kennt der Betroffene die Anordnung der Farben.
- Wer mit der Sehschwäche aber Lokführer, Busfahrer, Taxiunternehmer, Pilot oder Polizist werden möchte, muss vorab Spezialeignungstests durchlaufen. Eine extreme Ausprägung kann die Berufswahl daher boykottieren.
- Im Alltag machen rote Schriftzüge auf grünem Hintergrund oder anders herum häufig Schwierigkeiten. Wenn beide Farben von gleicher Helligkeit sind, kann das Entziffern schwerfallen. Wer einem Rot-Grün-Betroffenen also einen roten Liebesbrief in grüner Schrift schreibt, soll sich bitte nicht wundern, wenn er keine Antwort erhält.
- Grundsätzlich macht einen die Rot-Grün-Schwäche aber nicht gleich zum Außenseiter. Das Leben mit matt farbigem Grau bedarf hie und da Improvisationsgeschick, aber farblos ist es nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil ein Betroffener es anders gar nicht kennt.
Vielleicht aber auch gerade weil er öfter improvisiert, denn Improvisation ist immer farbenfroh und interessant.
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