Zur Entstehungsgeschichte der "Bilder einer Ausstellung"
- Der Klavierzyklus "Bilder einer Ausstellung" entstand im Jahr 1874 und gehört damit zum Spätwerk des Komponisten. Ausschlaggebend für die Komposition waren zehn Bilder des Architekten Viktor Hartmann (1834-1873).
- Als Mussorgsky Hartmann im Jahr 1870 kennenlernte, war er bereits Mitglied des "Mächtigen Häufleins". Dies war der eigens gewählte, ironisch angehauchte Name einer Gruppe fünf russischer Komponisten. Ihr gehörten neben Mussorgsky noch Nikolai Rimski-Korsakow, César Cui, Alexander Borodin und Mili Balakirew an.
- Verantwortlich für die Bekanntschaft von Mussorgsky und Hartmann war Mussorgskys Freund und Kunstkritiker Wladimir Stassow. Dieser sorgte 1870 dafür, dass Hartmann in den Kreis des "Mächtigen Häufleins" eingeführt wurde.
- Hartmann, der neben seiner Tätigkeit als Architekt viel zeichnete, verfolgte ähnliche Ziele wie die fünf Komponisten. Während diese versuchten, volkstümliche Elemente russischer Musik in ihre Kompositionen einfließen zu lassen, verwendete er russische Motive in seinen Bildern. Dies ist vermutlich einer der Gründe, warum er und Mussorgsky bald enge Freunde wurden.
- Als Hartmann im Jahr 1873 mit nur 39 starb, entschied sich Mussorgsky, seinem Freund ein musikalisches Denkmal zu setzen. Inspiriert durch eine Ausstellung mit Hartmanns Bildern, schrieb er eine Vertonung zu zehn ausgewählten Gemälden.
- Zu den berühmtesten Vertonungen des Klavierzyklus gehören die Bilder zum "Großen Tor von Kiew" und zur "Hütte der Baba Yaga". Seine Komposition wurde 1874 fertiggestellt. Gewidmet ist sie Wladimir Stassow. Dieser hatte maßgeblich zur Entscheidung, das Stück zu komponieren, beigetragen.
Inhalt der Bilder und musikalische Umsetzung
- Mussorgsky begnügt sich nicht damit, die zehn Bilder musikalisch zu vertonen. Ein Zyklus wird aus den einzelnen Stücken erst durch die stetig wiederkehrende "Promenade". Hierbei handelt es sich um ein kurzes Stück, das sowohl als Vorspiel als auch als Zwischenspiel fungiert.
- Die "Promenade" hat die Funktion, die einzelnen Bilder miteinander in Bezug zu setzen. Vor dem inneren Auge des Zuhörers erscheint eine Person, die nacheinander an den Bildern vorbeigeht. Mal verweilt sie vor einem Bild, mal verfällt sie in Nachdenklichkeit, wie es bei einem Ausstellungsbesuch üblich ist.
- Zu etwas Besonderem wird die musikalische "Promenade" einerseits durch ihren Wiedererkennungswert. Es handelt sich um eine eingängige Melodie, die hauptsächlich aus kleinen Intervallen und Tonschritten besteht und russisches Volksliedmaterial enthält.
- Während die erste Promenade jedoch in Dur steht und in zügigem Tempo gespielt wird, klingt eines ihrer späteren Pendants durch die Mollfärbung und das langsamere Tempo wesentlich melancholischer. Der Zuhörer merkt so, dass die Bilder den Ausstellungsbesucher nicht unbeteiligt lassen.
- In jedem Bild bemüht sich Mussorgsky um eine charakteristische Klangfarbe und Stimmung. Viele Vertonungen entsprechen dem Anspruch an programmatische Musik insofern, als sie sehr lautmalerisch umgesetzt werden. Besonders eindrucksvoll ist das Bild der "Hütte der Baba Jaga". Hier wird der Hexenritt in der Walpurgisnacht in all seiner Klanggewalt höchst charakteristisch dargestellt.
- Weniger lautmalerisch, aber ebenso bildlich wirkt die Musik zu "Bydlo", einem alten Karren, der von Ochsen gezogen wird. Wie aus weiter Ferne rollt die Musik an, dem sich stetig nähernden Karren gleich. Wie in vielen anderen Bildern ist Mussorgsky auch hier um russische Melodien bemüht, die in ihrer Harmonik und Melodik ebenso einzigartig wie eingängig sind.
- Den Höhepunkt des Zyklus bildet das "Große Tor von Kiew". Dieses Stück ist von monumentalem Charakter und lässt die Größe und Pracht des Bauwerks vor dem inneren Auge des Zuhörers deutlich werden.
- Durch seine Klangvielfalt und die schillernden musikalischen Farben wirkt das "Große Tor von Kiew" weniger pianistisch als orchestral. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die "Bilder einer Ausstellung" später auch für Orchester instrumentiert wurden.
Ravels Bearbeitung für Orchester
- Nicht nur als Klavierstück und als programmatische Komposition hatten die "Bilder einer Ausstellung" durchschlagenden Erfolg. Sie sind mehrfach als Basis für eine Orchesterbearbeitung genutzt worden.
- Die berühmteste Bearbeitung stammt von Maurice Ravel. Sie wurde 1922 uraufgeführt und wird auch heute nach wie vor häufig gespielt.
- Da Ravel Mussorgskys Komposition verehrte, bemühte er sich um eine unterstützende, aber nicht unnötig verändernde Interpretation. Im Gegensatz zum Klavier konnte er sämtliche klangfarblichen Facetten durch verschiedene Instrumente ausdrücken. Auf diese Weise entstand ein noch größeres Ausmaß an Bildlichkeit.
- Im Bild des reichen und des armen Juden dienen bewusst eingesetzte Instrumente der Charakterisierung der beiden Figuren. Der reiche Jude wird durch wuchtige Streicher und Holzbläser beschrieben. Der merkwürdig dünne Klang der gestopften Trompete, die für den armen Juden verwendet wird, wirkt dagegen wie eine Karikatur. Auf diese Weise veranschaulicht Ravel die Interpretation, die bereits in der Klavierfassung angedeutet wird.
- Einzig und allein bezüglich der Promenaden weicht Ravel vom Original ab. Er lässt die Wiederholung der ersten Promenade, die in der Mitte der Komposition auftaucht, weg. Hierdurch entsteht eine andere Interpretation. Mussorgsky legt den Schwerpunkt auf den von Bild zu Bild wandernden Ausstellungsbesucher und verbindet auf diese Weise Kunst und Musik. Ravel dagegen richtet den Blick ganz auf die Bilder und deren Inhalt.
Wenn Sie die "Bilder einer Ausstellung" noch nie gehört haben, ist es ratsam, sich zunächst der Originalfassung zu widmen. Falls Sie aber mit dem Genre der Programmmusik noch nicht vertraut ist, lassen Sie sich auch von der klanglichen Wirkung der Orchesterbearbeitung beeindrucken. Sowohl in ihrer Ähnlichkeit als auch in ihren Unterschieden sind beide Fassungen absolut empfehlenswert.
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