Die Typologie des Märchens
- Die Unterscheidung von einzelnen Märchen und ihren Akteuren ist nicht zuletzt so schwierig, weil Märchen nur selten ihre Motivwahl verändern. So läuft ein Märchen immer nach demselben Schema ab. Zwar werden unterschiedliche Dialoge und Namen gewählt und auch die Abenteuer der Akteure decken sich nicht zwingend, Eckpunkte und Beweggründe bleiben aber gleich, sodass die Hauptrolle eines Märchens nicht dem Inhalt zukommt, sondern der Schematisierung seiner Motive.
- Aus genau diesem Grund scheinen sich die Märchengestalten so wenig voneinander zu unterscheiden. Wenn Sie also eine junge Frau in Gefahr zuordnen sollen, die von einer Hexe bedroht und einem Prinzen gerettet wird, dann werden Sie das kaum schaffen, weil beinahe jedes Märchen ein solches weibliches Charakterbild enthält. Äußerliche Merkmale und Namen mögen bei den Hauptpersonen zwar noch unterschiedlich sein, bei anderen Motiven und Charakteren decken sogar sie sich völlig.
- So werden einzelne Figuren auf Grund der Typologie oft nicht einmal individualisiert, sondern bleiben ein Schema, wie beispielsweise der Prinz, der generell namenlos bleibt oder die Hexe, die auch von den Akteuren Hexe genannt wird. Ein Prinz ist immer schön, mutig und kühn - generell verliebt er sich in das gute Mädchen in Gefahr. Die Hexe ist immer hässlich, krummnasig und wirrhaarig und will dem guten Mädchen einen Strich durch die Rechnung machen.
Märchengestalten durch besondere Merkmale richtig zuordnen
Auf Grund der Typologie rät es sich, sich bei der Zuordnung von Märchenfiguren alleine auf die Hauptperson zu stützen - so also meist auf das Mädchen, das sich schließlich in den Prinzen verliebt. Im Grunde müssen Sie sich zu den einzelnen weiblichen Hauptpersonen der Märchen nur ein Unterscheidungsmerkmal einprägen, um sie sowohl von anderen Märchengestalten abgrenzen zu können, genauso aber auch zu einer Handlung zuordnen zu können.
- Im Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen finden sich z.B. Hinweise auf das Aussehen des Mädchens. Zwar wird sie wie alle anderen Figuren als hübsch beschrieben, jedoch mit einigen Besonderheiten - so ist ihre Haut weiß wie Schnee, ihre Lippen sind rot wie Blut und ihre Haare und Augen schwarz wie Ebenholz. Ihre Schönheit ist ein so wichtiges Merkmal, dass sie die Handlung lenkt - ihre Stiefmutter will sie loswerden, weil sie selbst die Schönste im ganzen Land sein will, der Spiegel aber Schneewittchen als Schönste benennt. So landet sie ihrer Schönheit wegen im Wald, wo sie auf die sieben Zwerge trifft und später durch einen Apfel der Stiefmutter vergiftet wird. Dass der Prinz sie rettet, passiert im Grunde nur, weil er sich sofort in ihre Schönheit verliebt hat. Damit kann das Märchen von Schneewittchen durch den Begriff der Schönheit zugeordnet werden.
- Auch zu Rapunzel kann eine relativ eindeutige Beschreibung getroffen werden, der nach sie sich durch ihre Haarpracht von den anderen Märchengestalten unterscheidet. Auch hier hängt die Handlung des Märchens stark mit ihrem besonderen Merkmal zusammen. So wurde sie in einem Turm eingesperrt und kann am Ende nur entrinnen, weil sie dem Prinz als ihrem Retter ihre unendlich langen Haare herunterlässt, damit er hinaussteigen und sie befreien kann. Somit steht Rapunzel gleichbedeutend mit dem Motiv des unendlich langen Haars.
- Ähnlich verhält es sich im Märchen von Dornröschen. Hier ist die weibliche Hauptperson in einen nimmer enden wollenden Schlaf gefallen, von dem alle anderen Gegebenheiten abhängen. Zwar handelt es sich anders als in den ersten zwei Beispielen nicht um ein äußerliches Merkmal, sondern einen Zustand, trotzdem bedingt der Schlaf letztlich sogar, dass Dornröschen im Prinz als ihren Wachküsser die große Liebe findet. Verbinden Sie Dornröschen daher also mit dem Schlaf.
- Letztendlich besteht auch im Aschenputtel-Märchen die Verknüpfung von Hauptmerkmal und folgender Handlung, hier ist der Zusammenhang aber abstrakter. Hierbei geht es um das Anderssein, das die Abläufe kontrolliert. Von ihrer Stiefmutter und ihren Stiefschwestern wird Aschenputtel misshandelt und ausgebeutet, weil sie nicht so aussieht wie sie und auch charakterlich nichts mit der Familie gemeinsam hat. Als sie auf einem nächtlichen Ball um 24 Uhr gehen muss, nachdem ein Zauber ihr diesen Ausflug ermöglicht hat, verliert sie ihren Schuh, der am Ende dem Prinzen hilft, sie zu finden. Nur weil der Schuh keinem anderen Mädchen passt, wird sie mit ihrem Prinzen vereint - also nur, weil ihre Größe anders ist als die von allen anderen. Ihre Andersartigkeit, materialisiert also der Schuh, lässt Sie Aschenputtel als Märchengestalt zuordnen.
Dieses Schema lässt sich auf eine Vielzahl von anderen Märchen anwenden und wird Ihnen auch zukünftig helfen, Märchengestalten zuzuordnen. Kennen Sie diesen Zusammenhang nämlich, setzt sich in ihrem Kopf die Handlung aus einem einzigen Merkmal zusammen und ein Unterscheidungskriterium pro Märchen kann sich nun wirklich jeder merken.
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