Goethe und Schiller - Vertreter zweier Epochen
- Gute zehn Jahre trennen Johann Wolfgang Goethe (geb. 28. Aug. 1749) und Friedrich Schiller (geb. 10. Nov. 1759). In der Geistesgeschichte jener Zeit sind dies beinahe Welten. Goethe war, als Schiller noch zur Schule ging, bereits ein gefeierter Dichter und Dramatiker. Sein erster großer Erfolg, der "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand" war 1773 im Selbstverlag erschienen. Ein Jahr später erschien "Die Leiden des jungen Werther".
- Als Schillers Werk "Die Räuber" erschien, war Goethe bereits so etabliert, dass er von seinem Freund, dem Herzog, Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach ein Jahr später zum Finanzminister [sic!] und später zum Intendanten des Weimarer Hoftheaters ernannt wurde. Als sich die Dioskuren ab etwa 1787 umkreisten (Schiller reiste nach Weimar und traf sich mit Bekannten Goethes, während dieser in Italien weilte) und ab 1788 allmählich annäherten, war Goethe längst geadelt und Schiller in finanziellen Nöten.
- Man kann und muss sicher von einem Generationswechsel zwischen Goethe und Schiller ausgehen, wie ihn auch Safranski implizit annimmt, wenn er Friedrich Schiller als einen der ersten Vertreter des deutschen Idealismus begreift - jener Denkrichtung, die eigentlich eher mit dem Namen von Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Gottlieb Fichte oder dem Dichter Friedrich Hölderlin verbunden wird.
- Ausgangspunkt für das Denken von Schiller, wie auch für Hegel, Schelling und Fichte, ist die Philosophie Immanuel Kants, mit dessen Werk sich Schiller auf Empfehlung Carl Leonhard Reinholds bekannt machte. Goethes Einflüsse waren nicht Philosophen, sondern der Kunstmaler Adam Friedrich Oeser, der ihm das Ideal der Antike im Sinne Winckelmanns nahebrachte, und der Theologe und Kulturtheoretiker Johann Gottfried Herder, der ihn mit Shakespeare und Homer bekannt machte.
- Abgekürzt könnte so gesagt werden, wo Goethe sieht und empfindet, da denkt Schiller. Goethes Sicht der Welt und damit auch des Menschen ist eine Ästhetische und Empirische. Der Mensch ist ein Wesen, das erfährt und sich auf diese Weise bildet. Schillers Perspektive ist eine intellektuell durchdachte analysierende Sichtweise, die den Menschen als autarken Handlungsträger begreift.
Schillers Person und sein Ideal
- In seinem Aufsatz "Tatkräfte und Wachstumskräfte" stellt der Philosoph Erich Rothacker heraus, dass nach Schiller der Mensch nicht einfach nur seine Taten tätigt, sondern "mit seinen höheren Zwecken" wächst. Rothacker stellt hierbei das Wollen des Menschen in den Vordergrund und lässt es auf die Tat des Menschen zurückwirken, durch die sich für den Handelnden eine neue Ausgangsposition ergibt, sodass ein Wechselspiel zwischen Wille, Handlung und individuellem Sosein angenommen wird. Der Mensch erhält Würde, wird so Meister seines eigenen Schicksals - sein Handeln moralisch bewertbar.
- Dieses Moment bricht in Schillers Ballade "Der Handschuh" geradezu hervor. Der Ritter Delorges, der, verliebt in Fräulein Kunigund, in den Raubtierkäfig springt, um einen hineingeworfenen Handschuh zu bergen, steht als Standbild idealistischer Geisteshaltung dar. Er, der von Kunigund aufgefordert war, durch diese Heldentat seine Liebe zu ihr zu beweisen, wirft ihr den Handschuh ins Gesicht, spricht "den Dank, Dame, begehr' ich nicht" und verlässt sie.
- Die autarke Person kann gar nicht anders handeln. Delorges kann nicht als Feigling dastehen, er will sich aber auch nicht von Kunigund als willfährige Marionette vorführen lassen. Die von ihm vollzogenen Handlungen sind also nicht die Handlungen einer Person, die innerhalb vorgegebener Muster agiert und agieren muss, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Delorges bezieht seine Würde nur aus sich selbst, aus seiner Unabhängigkeit und handelt insofern richtig und seiner Würde entsprechend.
- Delorges ist das Idealbild einer "schönen Seele", ein Begriff, der sowohl für Goethes als auch für Schillers Menschenbild zentral ist, in der Pflicht, Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit sich in Anmut und Würde offenbaren (so entwickelt Schiller selbst den Begriff in seiner Schrift "Über Anmut und Würde" von 1793). Hier ist die schöne Seele eine fast gänzlich zivilisatorische Errungenschaft, die durch Kunst - namentlich durch Theater oder Dichtkunst - befördert werden kann.
- Diese Grundannahme hält Schiller, so sehr sich frühe Dichtung und späte Dichtung voneinander unterscheiden mögen und so sehr der einstige Kant-Apologet den Königsberger Philosophen später kritisierte, im Wesentlichen durch.
Goethes Mensch auf dem Weg zur Natur
- Goethes Menschenbild scheint hier auf den ersten Blick weniger homogen zu sein. Dem Leser begegnet das Lob des praktischen Nutzens "Was fruchtbar ist, ist wahr" (woraus der oben zitierte Erich Rothacker sein Prinzip der Fruchtbarkeit entwarf), wie auch die Stelle im Faust, nach der "Vernunft und Wissenschaft" des Menschen "allerhöchste Kraft" sind. Doch auch hier ist der Begriff der "schönen Seele" zentral, die sich auch bei Goethe letztlich durch Harmonie auszeichnet.
- Dargestellt findet sie der Leser im Buch VI des Bildungsromans "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Hier findet ein Mensch zu sich selbst. Ein Mädchen verliebt sich, emanzipiert sich, lernt und bildet sich musisch, spirituell und wissenschaftlich. Schließlich findet dieses Mädchen zu einer ganz natürlichen Religiosität und wird zu einer gläubigen und wohltätigen Frau.
- Der Gegenentwurf ist der Faust. Auch hier ist ein Mensch begabt und lebenshungrig. Er liest und studiert. Er treibt lange Jahre Wissenschaft, wird Magister, Doktor und am Ende steht er da als armer Tor und ist so klug als wie zuvor. Doktor Faust ist keine schöne Seele geworden. Er hat sich zwar wissenschaftlich gebildet, ist auch theologisch gebildet, ist aber in seiner Natürlichkeit auf der Strecke geblieben und so als Mensch gescheitert. Mephisto hat deswegen leichtes Spiel mit ihm, weil eine Seele, je weiter sie vom Zustand der Schönheit entfernt ist, umso stärker von Sehnsüchten und Unzufriedenheit durchdrungen ist.
- In seinem Menschenbild offenbart sich Goethe ganz als der naturwissenschaftliche Ästhet, der er ist. Denn dem Ideal der Schönheit entspricht die Natur, die Natürlichkeit. Und so kann die schöne Seele als die Person angesprochen werden, die durch Bildung, durch Glaube und Hingabe zu ihrer Natur findet.
Im Ganzen bedeutet dies für das Menschbild, dass nach Goethe der Mensch in seiner Naturgemäßheit Vollkommenheit findet, nach Schiller darin, einem erstrebten höheren Ideal durch (charakterliche und ästhetische) Bildung möglichst nahe zu kommen.
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