Kurzinhalt der "Physiker" - geisteskrank zum Schutz der Menschheit
Großes Wissen, eine Irrenanstalt und mehrere Morde sind inhaltliche Hauptstichpunkte zu Friedrich Dürrenmatts Komödie.
- Drei Physiker geben sich als Geisteskranke aus und landen in einer Irrenanstalt. Jeder nähert sich dem Irrsinn auf seine eigene Weise: Der eine versucht sich als Albert Einstein, der zweite als Isaac Newton und der dritte behauptet, ihm erscheine König Solomon.
- Während sich die erstgenannten der scheinbaren Physiker als Agenten konkurrierender Geheimdienste herausstellen, ist der zuletzt genannte tatsächlich Wissenschaftler. Er hat die mächtige "Weltformel" entdeckt und will die Menschheit davor schützen, indem er sich selbst die Glaubwürdigkeit abspricht. Die beiden Agenten aber wissen von der Formel und wollen Physiker Möbius um seine Erkenntnisse berauben.
- Um ihre persönlichen Geheimnisse zu vertuschen, ermordet jeder von ihnen seine Krankenschwester. Als daraufhin die Polizei auf das Irrenhaus aufmerksam wird, zerstört Physiker Möbius seine Aufzeichnungen. Die beiden Agenten überzeugt er davon, dass das Wissen über die "Weltformel" zum Wohle der Menschheit geheim bleiben muss.
- Leider haben die drei Männer ihren Pakt ungeachtet der Anstaltsleiterin geschlossen. Dr. Zahnd hat die "Weltformel" längst an sich gerissen und stellt sich als einzig wahre Verrückte heraus. Mit Möbius' Wissen will sie im Auftrag von König Salomon die Weltherrschaft an sich reißen.
Wissen ist Macht, so ein inhaltlicher Leitfaden der Komödie. Wie es sich für ein Theaterstück gehört, findet der Inhalt im Rahmen mehrerer Akte statt.
Erster Akt - Einführung in Welt, Figuren und Thema
Dürrenmatt hat seinem Stück eine zweiaktige Gliederung zugrunde gelegt. Die beiden Akte sind thematisch weiter untergliedert. Eine Szenenanalyse des ersten Akts vereint inhaltliche Vorstellung und strukturelle Betrachtung.
- Der Autor führt zu Anfang des ersten Akts in eine Welt ein, in der sich äußerer Schein und innere Wahrheit gegensätzlich gegenüberstehen. Das kleinbürgerliche, scheinbar idyllische Stadtleben steht in dieser Einleitung der anarchischen Irrenanstalt entgegen.
- Auslösendes Moment für die Handlung ist ein vorausgegangener Mord, den Einstein an seiner Krankenschwester und Geliebten begangen hat. Die Eröffnungsszene des Stücks legt Dürrenmatt als Dialog zwischen Oberschwester und Kriminalinspektor Voß an, der durch die eigenen Regeln der Irrenanstalt in seiner Rolle entmündigt wird.
- Der gegenwärtige Mord motiviert einen Rückblick. Dem Inspektor ist er Anlass, den zurückgelegenen Mord von Newton an dessen Krankenschwester und Geliebten wieder aufzurollen. Im Gespräch mit Newton tritt die paradoxe Moral der Irrenanstalt weiter zutage.
- Im Gespräch zwischen Kriminalinspektor und Anstaltsleiterin verliert Voß seinen letzten Stand und muss sich den Regeln der Irrenanstalt vorerst geschlagen geben.
- Die Folgeszene dreht sich um einen Familienbesuch bei Physiker Möbius, den er durch einen Tobsuchtsanfall und Verlesungen im Geiste Salomons abwehrt. Seine geschiedene Frau, deren neuer Missionarsgatte und die beiden Kinder mit Doppelnamen verkörpern die bürgerliche Welt, deren groteske Moral und ihre Bemühungen um den harmonischen Schein. Dramaturgisch dient die Szene Dürrenmatt zur Vorstellung von Möbius' biografischen Hintergründen.
- Im Anschluss an die Besuchsszene findet sich Möbius im Gespräch mit seiner Krankenschwester und Geliebten wieder. Als die ihm zu nahe kommt, bringt er sie zum Schutz seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse um.
Der Mord an der Schwester schließt den ersten Akt, motiviert den zweiten und bereitet die Umkehrung der bisherigen Handlung vor.
Analyse des zweiten Akts - Spiegelbildfunktion
Zu Beginn des zweiten Akts findet synchron zur Struktur des ersten Akts eine polizeiliche Untersuchung unter Voß' Leitung statt.
- Der Inspektor hat die Regeln der Irrenanstalt mittlerweile angenommen, sodass es im Dialog mit Fräulein Zahnd zu einem Rollentausch kommt: Anders als sie will er nun von einer weiteren Verfolgung des Mörders absehen.
- In einem Dialog zwischen Möbius und Fräulein Zahnd hält der Physiker weiter an seinem Irrsinn fest. Die Anstaltsleiterin glaubt ihm, Salomon habe ihn mit dem Mord beauftragt. Der Dialog dient dementsprechend dazu, Fräulein Zahnds fortschreitenden Irrsinn anzudeuten.
- Anschließend kommt es zu einem Gespräch zwischen den drei Physikern. Erstmals treten für den Leser die wahren Beweggründe und das Schauspiel der Männer zutage. Newtons echter Name ist Kilton - er stellt sich als kapitalistischer Agent heraus, der Möbius auf seine Seite ziehen will. Einsteins Name ist eigentlich Eisler - ein kommunistischer Geheimagent, der den Ostblock verkörpert und Möbius von sich überzeugen will.
- Die drei "Physiker" schließen am Ende einen Pakt der Geheimhaltung und beschließen, in der Isolation zu bleiben. Möbius überzeugt die beiden Agenten davon, indem er die begangenen Morde als Schutz der Allgemeinheit bezeichnet, solange das Wissen durch sie isoliert bleibt.
- Der Pakt der Männer kommt zu spät, denn Fräulein Zahnd hat in ihrem ansteigenden Irrsinn Möbius Aufzeichnungen kopiert. Im Auftrag von Salomon macht sie sich daran, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die drei "Physiker" können dieses Vorhaben in ihrer Entmündigung nicht mehr verhindern.
- Den Abschluss der Komödie bildet das fürs Theater typische "Beiseite-Sprechen" der drei Protagonisten. Jeder von ihnen wendet sich in einem inneren Monolog und je in der Rolle direkt an das Publikum.
Wie jedes Theaterstück sind "Die Physiker" dialogisch aufgebaut.
Dialogstrukturen - metaphorische Bezüge, Vorausdeutungen und Rückblicke
Bei einer Untersuchung der Sprechanteile achten Sie immer auf die Verteilung. Welche Art von Gespräch liegt vor? Antwortet einer der Gesprächspartner auf die Fragen des anderen? Lenkt einer vom Thema ab? Reden die Beteiligten absichtlich oder unabsichtlich aneinander vorbei und wer hat den größeren Sprechanteil? Dürrenmatts Dialoge spiegeln Machtverhältnisse, die sich über diese Fragen herauskristallisieren. Zugleich durchsetzt Dürrenmatt die Repliken mit vorausdeutenden Elementen und metaphorischen Bezügen.
- Newton bezieht sich im Gespräch mit Voß während des ersten Akts beispielsweise darauf, dass er wegen eines "kleinen Mordes" verfolgt würde, während der Erfinder der Atombombe keine Verfolgung zu befürchten habe.
- Ein metaphorisch historischer Bezug ist im darauffolgenden Dialog zwischen Inspektor und Fräulein Zahnd angelegt. Der Inspektor versichert ihr, Newton halte sich mittlerweile für Einstein. Sie erwidert darauf, wer in ihrer Anstalt wer sei, bestimme noch immer sie.
- Diese Formulierung erinnert an Göhrings Satz, wer bei ihm Jude sei, bestimme er. Auf diese metaphorische Weise wird Fräulein Zahnds später in Erscheinung tretende Verbindung zum machtsüchtigen Bösen angedeutet.
- Den ersten und einzigen Dialog zwischen den drei "Physikern" untereinander nutzt Dürrenmatt als Ansatzpunkt für den Hauptgedanken des Stücks. Die drei Physiker spiegeln drei mögliche Standpunkte der Öffentlichkeit.
- Der kapitalistische Kilton erklärt Forschungsergebnisse zum Allgemeingut, über dessen Verwendung der Forscher keine Entscheidungskraft habe. Der kommunistische Kilton dagegen betont Möbius Verpflichtung, seine Ergebnisse an eine politische Richtung weiterzugeben und fordert ihn zur Entscheidung auf. Die Verantwortung mächtigen Wissens schiebt er auf die Partei ab, während Kilton sie der Allgemeinheit überträgt.
- Möbius dagegen hat mit der Zerstörung aller Ergebnisse und der Einweisung in die Anstalt den Weg der Isolation gewählt. Er erhofft so die Rücknahme der machtgebenden Erkenntnis.
- Die Frage nach dem verantwortlichen Umgang mit großem Wissen stellt Dürrenmatt mit dieser Struktur auf eine theoretische Basis. Zwar werden sie diskutiert, aber praktisch umgesetzt wird keiner der möglichen Lösungswege.
- Im abschließenden Beiseitesprechen stellen Newton und Einstein Hintergründe zu deren Biografien vor und symbolisieren je ein Stadium der Wissenschaft. Möbius tritt als gebrochener König Salomon auf, der die Zerstörung der Welt durch die Wissenschaften beklagt.
Genauso wie metaphorische Bezüge arbeitet Dürrenmatt also motivierende und auflösende Rückblicke und Vorausdeutungen in den Repliken der "Physiker" ein. Im Mittelpunkt stehen Wissen und Macht. Zur Interpretation dieser Thematiken ist wiederum eine Betrachtung der Zeithintergründe sinnvoll.
Zeithintergründe - Kalter Krieg und Atomarforschung
Kunst steht im Dialog mit den gesellschaftlichen und politischen Umständen ihrer Entstehungszeit.
- Der Kalte Krieg zwischen kommunistischer Sowjetunion und kapitalistischer USA ist in der Entstehungszeit des Theaterstücks gesellschaftlich und politisch bedeutendster Hintergrund. In Dürrenmatts Komödie manifestieren sich diese Zeitereignisse in den beiden Konfliktparteien Newton und Einstein. Kommunist und Kapitalist bekriegen einander um das machtvolle Wissen von Möbius.
- Während des Kalten Krieges ist eine der gesellschaftlichen Hauptängste der drohende Atomkrieg. Wissenschaftliche Ergebnisse werden vor diesem Hintergrund zugleich als Segen und Gefahr erkannt.
- Die eventuelle Instrumentalisierung von Forschungsergebnissen zum Machtgewinn ist nicht auszuschließen, so die damalige Erkenntnis. Ist die Forschung an sich deshalb unverantwortlich? In den falschen Händen führt sie schließlich zu Zerstörung statt zu Fortschritt. Sollte das Forschen zum Schutz der Menschheit aus diesem Grund verboten werden?
- Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaften und ethischen Grundsätzen entstehen. Im Zuge jener wird der moralische Umgang mit Wissen zu einer polarisierenden Streitfrage. Ist der Wissenschaftler für den drohenden Missbrauch der Atomarerkenntnisse verantwortlich und wie hätte er dem entgegenwirken können? Ist er zu Geheimhaltung verpflichtet? Oder muss er seine Ergebnisse zu Allgemeinwissen zu machen, damit jeder Mensch theoretisch gleich mächtig ist?
- Bei Geheimhaltung von Forschungserkenntnissen läge die Macht des Wissens bei einem allein. Würde er den Verstand verlieren, wären ihm alle anderen ausgeliefert. Nur seine vollständige Isolation und Entmündigung könnte Missbrauch ausschließen.
- Wenn Forschungserkenntnisse dagegen veröffentlicht werden, weiß jeder, wie er die Welt des anderen zerstören kann. Dann wird es vielleicht keiner tun - schließlich müsste jeder den anderen fürchten. Der könnte das gleiche Wissen nämlich auf dieselbe Weise missbrauchen.
All diese Zusammenhänge der Zeit behandelt Dürrenmatt in "Die Physiker".
Interpretation - Macht des Wissens im Gesamtwerk Dürrenmatts
Neben der Betrachtung von Zeithintergründen hilft die Einordnung des Werks in das Gesamtwerk des Autors bei der schlüssigen Interpretation.
- Friedrich Dürrenmatt hatte sich in seiner Schaffensphase um 1960 herum der gesellschaftskritischen Groteske verschrieben. In seinem theoretischen Werk "Theaterprobleme" beschreibt er kurz zuvor die Rolle von Autor und Stück.
- "Die Physiker" geht damit konform und fällt mit einer Entstehungszeit um 1961 in diese grotesk-kritische Periode. Im Mittelpunkt der Komödie steht der gesellschaftlich-politische Umgang mit Wissen. Das Hauptmoment: Wissen ist Macht und stets gefährdet, als zerstörerische Waffe missbraucht zu werden.
- Schon im ersten Akt der "Physiker" nehmen Dürrenmatts Dialoge direkten Bezug auf die damalige Atomproblematik. Dieser erste Bezug steigert sich durch das Werk hindurch zur Frage nach dem Umgang mit Erkenntnissen wie der Atomenergie.
- Die drei Physiker verkörpern die möglichen Szenarien: Isolation, allgemeine Veröffentlichung und Unterstellung in politische Verantwortung. Alle drei Wege verurteilt Dürrenmatt mit der Instrumentalisierung des Wissens durch Fräulein Zahnd zum Scheitern.
- Damit greift er eine persönliche, schon in vorausgegangenen Stücken wie "Der Erfinder" angeklungenen Grundüberzeugung auf. Erkenntnisse oder Gedanken sind immer reproduzierbar, sobald ein Mensch sie gedacht hat. In "Die Physiker" wird diese Reproduktion durch Zahnds Kopien von Möbius Unterlagen verbildlicht. Der dahinterstehende Gedanke ist aber deutlich abstrakter.
- Gemeint ist, dass alles, was gedacht werden kann, irgendwann auch gedacht werden wird. Sobald ein Mensch einen Gedanken hatte, beweist das, dass dieser Gedanke möglich ist. Wenn ein Gedanke möglich ist, wird ihn irgendwann auch ein Zweiter haben.
- Die Geheimhaltung von Wissen ist nach Dürrenmatt daher sinnlos und sogar gefährlich. Der verantwortungsvolle Umgang mit Wissen liegt ihm zufolge nicht in der Isolation, sondern in der Gemeinschaft. Veröffentlichung ist der erste Schritt dazu.
- Nur so kann der Wissenschaftler die Menschheit auf den Gedanken vorbereiten und zum gemeinsamen Umgang damit bemächtigen. Das muss geschehen, bevor die falschen Hände denselben Gedanken erwischen und im Unwissen der Allgemeinheit zum Machtgewinn nutzen.
- In Folgewerken beurteilt Dürrenmatt die Forderung nach einem Forschungsverbot in ähnlichem Sinn als unzumutbar. Der Mensch solle sich aus ethischen Überlegungen heraus nicht zum Dummkopf verdammen.
Vor diesem Autor bezogenen und dem oben diskutierten Zeithintergrund gelingt Ihnen die Stückanalyse. Damit Ihre Interpretation aber zu etwas Besonderem wird, fehlt noch ein letzter Blickwinkel.
Gegenwartsbezüge - von Kampfdrohnen bis WikiLeaks
Wenn Sie bei Ihrer Analyse richtig glänzen wollen, dann weiten Sie Ihre Interpretation noch ein Stück aus.
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Die beschriebenen Gedanken Dürrenmatts sind zeitlos. Bei einer Analyse des Stücks können Sie den Sachverhalt daher ebenso vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Zeit betrachten. Im Technologiezeitalter sind gute und schlechte Seiten des technischen Fortschritts schließlich täglich Brot.
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Als eines von dutzenden Beispielen können Sie automatisierte Kampfdrohnen erwähnen. In der Moderne ist ein Heer aus Robotern für kriegerische Handlungen keine Illusion mehr. Nur durch das allgemeine Wissen über diese Möglichkeit dessen wird der Umgang mit und die Vorbeugung von eventuellen Folgen ermöglicht.
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Ein noch geeigneterer Bezug zur Moderne ist der WikiLeaks-Skandal. Durch die Veröffentlichung von "geheimen Wissen" bemächtigt Leaks die Allgemeinheit zum gemeinsamen Umgang. Zu Recht ist er im Jahr 2014 daher für den Nobelpreis nominiert.
Wahrscheinlich fallen Ihnen mit dem neu gewonnen Wissen über Dürrenmatt und seine "Physiker" ohnehin eigene Bezüge zur Moderne ein. Viel Spaß bei deren Vorstellung und viel Glück bei Ihrer persönlichen Analyse.
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