"Der Vorleser" - Handlungsabriss
- Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" schildert zunächst vordergründig die Liebesbeziehung zwischen der 36-jährigen Hanna und dem unerfahrenen, da 21 Jahre jüngeren Michael Berg. Regelmäßig besucht der Schüler die analphabetische Schaffnerin, um ihr vorzulesen, um mit ihr zu baden und sich schließlich mit ihr zu lieben.
- Eines Tages ist Hanna wie vom Erdboden verschwunden und die "verbotene" Liebesbeziehung der beiden findet ein jähes Ende. Als Michael schließlich herangewachsen ist, nimmt er ein Jurastudium auf, das ihn unverhofft und zufällig wieder auf seine alte Verflossene treffen lässt.
- So trifft er Hanna als Angeklagte einer NS-Verhandlung wieder, die Michael im Rahmen seines Studiums besucht. Im Laufe der Verhandlung bekennt Hanna ihre Schuld, doch Michael erkennt durch das Wissen über ihren Analphabetismus, dass sie weitaus mehr Schuld auf sich zu nehmen versucht, als sie überhaupt haben kann.
- Mit dem Wissen, dass er ihre Schuld mindern und sie bedingt entlasten könnte, gerät Michael in einen Gewissenskonflikt. Schließlich entscheidet er sich, dem Gericht nicht von seiner Liebesbeziehung und den Lesungen mit Hanna zu berichten, sodass seine ehemalige Verflossene lebenslänglich verurteilt wird und sich kurz vor ihrer Entlassung im Gefängnis umbringt, weil sie sich mittlerweile offenbar vor dem Leben dort draußen fürchtet.
Postmoderne Epochenmerkmale am Beispiel von Bernhard Schlinks Roman
- "Der Vorleser" ist ein Roman der Gegenwart. 1995 erschienen ist er zeitlich in die Epoche der Postmoderne einzuordnen, die ihren Anfang etwa 1989 nahm. Eine Vielzahl von postmodernen Merkmalen lässt sich in der Erzählung wieder finden. So wird typisch Postmoderne kein Wert auf den Fortschrittsgedanken gelegt, stattdessen ist die Neukombination von bereits da gewesenem Mittelpunkt des Interesses. Ferner lassen sich in der postmodernen Welt weder übergeordneter Sinn oder übergeordnete Lösung erkennen.
- Postmoderne Romane schildern viel mehr eine zufällige und pluralistische Welt, wie sie auch im "Vorleser" wiedergegeben wird. Protagonist Michael Berg findet sich durch Zufall in Hannas Gerichtsverhandlung wieder, wobei Schlink dem Leser durch einen sprachlichen Aufbau nach konstantem Schema These-Antithese keine tatsächliche Lösung, Moral oder Meinung zu den erzählten Sachverhalten anbietet, sondern pluralistisch alle möglichen Lösungen, Meinungen und Moralen vorstellt, sodass der Leser seine eigene Entscheidung treffen muss und sich nicht an übergeordnetem Sinn orientieren kann.
- In genau jenem Sinne gilt für Werke der postmodernen Epoche die Asymmetrie und Gegensätzlichkeit als charakteristisch. Postmoderne Autoren konstruieren im Stile von Bernhard Schlink Gegensätzlichkeiten, wobei sie den Leser nicht dazu drängen, sich mit dem "Helden" des Romans zu identifizieren. Die Konstruktion von Gegensätzlichkeiten weist ferner auf die chaotische, moderne Welt zurück, die auf das Individuum durchaus verwirrend wirken kann. Bereits das Hauptmotiv von Schlinks Romans, die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, weist dabei eine antithetische Struktur auf.
- Auch, wenn er keine tatsächliche Lösung vorschlägt, behandelt "Der Vorleser" als zentrales Thema den Generationenkonflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit und arrangiert sich um die Schuldfrage, wobei Protagonist Berg während Hannas Verhandlung in einen tiefen Gewissenskonflikt gerät, nachdem Hanna, als NS-Verbrecherin angeklagt, deutlich mehr Schuld auf sich nimmt, als sie eigentlich hat. Statt zu intervenieren und sein entlastendes Wissen Preis zu geben entscheidet Michael Berg sich schließlich zum Schweigen, wobei der Leser selbst beurteilen muss, wie richtig jene Entscheidung tatsächlich war.
- Charakteristisch für die Postmoderne ist die Aufarbeitung der Kriegserinnerung und die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration dabei allemal. Die Schuldfrage und die Suche des Individuums nach sich selbst und Gerechtigkeit spielt für viele postmoderne Romane eine Rolle.
- Typisch für Texte der Postmoderne ist ferner die Unmöglichkeit des Individuums, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und durch eine Folge persönlicher Entscheidungen einen bestimmten Punkt zu erreichen. Jenes Merkmal findet sich bedingt auch im "Vorleser", wenn sich die Frage stellt, inwieweit Berg selbst entscheiden hat, sich einer Liebesbeziehung mit der deutlich älteren und höchst dominanten Hanna hinzugeben.
- Zuletzt zeichnen postmoderne Texte sich durch eine Art Mehrfachcodierung aus. Ein möglichst breites Leserpublikum wird angesprochen, da gewählte Themen nachvollziehbar geschildert und in die Texte so eingearbeitet werden, dass sie solche, die sich mit den gegebenen Sachverhalten bereits beschäftigt haben, genauso ansprechen wie solche, die über keinerlei Vorwissen zu den gewählten Themen verfügen. Die Verbindung von Liebesgeschichte und NS-Gericht lässt Schlinks Roman jenem postmodernen Charakteristikum der Mehrfachcodierung schließlich besonders entsprechen.
Weiterlesen:
Wie hilfreich finden Sie diesen Artikel?