Wahrheit und Lügen
Die meisten Menschen werden sicher spontan mit “Nein“ antworten, wenn Sie die Frage, ob man Lügen darf, gestellt bekommen. Gleichzeitig wird ständig im Alltag gelogen. Viele der Unwahrheiten sind so selbstverständlich, dass sich kaum jemand Gedanken darüber macht. Typische Beispiele: Verkäufer versichern, dass der angebotene Artikel der beste auf dem Markt sei. Ein Partner sagt, er habe eine Aufgabe erledigt, obwohl er erst durch die Frage danach wieder an diese denkt. Selbst wahrheitsliebende Eltern lügen ohne Bedenken über Weihnachtsmann, Christkind und Osterhasen. Der Anspruch immer ehrlich zu sein und die Realität, klaffen weit auseinander.
- Der lateinische Kirchengelehrte Augustinus von Hippo (354 - 430) betrachtet jede Lüge als Sünde. Er lehnt diese sogar ab, wenn durch eine Unwahrheit ein schweres Vergehen verhindert werden kann. Auch Thomas von Aquin (1225 - 1274) und Immanuel Kant (1724 - 1804) vertreten die Ansicht, dass Wahrheit das höchste Gut ist. In seinem Aufsatz: "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen." verdammt Kant jede Art der Lüge. Aber selbst Augustinus betrachtete einige Unwahrheiten in der Bibel als zulässig, zum Beispiel die Tatsache, dass Abraham seine Frau Sara als seine Schwester ausgab. (Gen. 20,1-13). Außerdem kann Wahrheit auch unmoralisch sein, zum Beispiel bei der Denunziation.
- Die Lüge wird von anderen Gelehrten anders beurteilt. Rudolf von Jhering (1818 - 1892) bezeichnet in einigen seiner juristischen Abhandlungen als legitim. Joost Meerloo (1903 - 1976) betrachtet Sprache sogar als Mittel, um für Distanz zu sorgen. Nach seiner Auffassung gehören Täuschung und Lüge zur Sprache.
Tatsache ist, dass Menschen lügen. Die Zahl von täglich 200 Unwahrheiten, die ein US-amerikanischer Psychologe namens John Frazier herausgefunden haben soll, ist nicht verifizierbar. Viele Untersuchungen lassen vermuten, dass jeder Mensch pro Tag zwei bis drei Lügen ausspricht. Das Pflichtwahlpraktikum: Empirische Erhebungen zum Bereich der Medien- und Gesundheitspsychologie von Prof. Dr. H. Lukesch (Universität Regensburg, Institut für Experimentelle Psychologie) vom Sommersemester 2003, bestätigen diesen Wert.
Bewertungen von Unwahrheiten
Seit Jahrtausenden gelten Lügen als falsch. Trotzdem lügt der Mensch im Schnitt dreimal am Tag. Daraufhin stellt sich die Frage, wieso er das tut.
- Die Fähigkeit Lügen zu erkennen scheint den Menschen in der Evolution keinen Vorteil gebracht zu haben. Laut Ekman (Ekman, P. (1996). Why don’t we catch liars? Social Research, 63, 801-817) können Menschen Lügner schlecht erkennen, weil das Erkennen einer Unwahrheit evolutionsbiologisch nicht nützlich war. Laut dem deutschen Anthropologen und Professor für Evolutionäre Anthropologie Volker Sommer (1954) hat die Fähigkeit zu täuschen sowohl Tieren, als auch Menschen immer Vorteile verschafft. (Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. München 1992, ISBN 3-423-30415-4).
- Eine Studie der Sozialwissenschaftlerin (PhD, Harvard) Bella DePaulo aus dem Jahr 1996 zeigt, dass die meisten Lügen dem Lügner einen Vorteil verschaffen. Nur ein kleiner Teil der Lügen nützt dem Belogenen.
- Alle Lügen, die dem Lügner einen Vorteil verschaffen, gelten in den üblichen Moralvorstellungen als verwerflich. Dabei ist es unerheblich, ob eine Lüge zu einem wirtschaftlichen Vorteil führt oder ob es darum geht, sich das Leben zu erleichtern.
- Nützt eine Lüge dagegen dem Belogenen, prallen verschiedene Werte aufeinander. Die Wahrheit kann grob unhöflich bis verletzend sein oder den betroffenen in eine schwere Krise stürzen. Es gilt abzuwägen, welche moralischen Werte als das höhere Gut anzusehen ist. Eine Lüge gegenüber einem Sterbenden, sein Sohn habe angerufen und gesagt, dass er ihn liebe, ist sicher moralisch zu rechtfertigen. Wie sieht es mit einer Lüge gegenüber der Polizei aus, dass man nicht wisse, wo der Gesuchte ist? Hier spielt es sicher eine Rolle, aus welchem Grund eine Person gesucht wird und ob die Situation in einem Rechtsstaat stattfindet. Sie sehen das Dilemma ist groß.
- Der Begriff Notlüge ist sehr schwammig: Die Not kann Angst vor einer Strafe sein oder auf dem Wunsch beruhen einen andere nicht zu kränken. Weder die Sozialwissenschaft noch die Theologie stellt im konkreten Fall eine Hilfe dar. In Beziehungen belügen sich die Partner oft aus Höflichkeit oder Rücksichtnahme. Sie wollen nicht verletzen. Die Frage ist nur, ob es sich in Wirklichkeit nicht um eine Lüge zum eigenen Vorteil handelt. Stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat Ihnen ein Essen gekocht, das Ihnen nicht schmeckt und er fragt, ob Sie es mögen. Es ist rücksichtsvoll zu sagen, das Essen sei ausgezeichnet. Diese Lüge verschafft Ihnen den Vorteil, dass Ihr Partner nicht verstimmt reagiert.
Darf man in der Erziehung lügen?
Sie wollen Ihr Kind zur Ehrlichkeit erziehen? Ihr Wunsch ist, dass es immer und überall die Wahrheit sagt? Vielleicht sollten Sie diese Maxime überdenken. Die Fähigkeit zu Lügen gilt als wichtiger Entwicklungsschritt.
- Kinder lügen in den ersten Jahren Ihres Lebens nicht. Sie können in der Regel Wahrheit und Unwahrheit nicht unterscheiden. Vor allen Dingen haben Sie noch nicht gelernt, dass sie die Macht haben, einem anderen Menschen etwas vorzugaukeln. Zwischen dem zweiten und dem fünften Geburtstag lernen Kinder, zu lügen. Dies geht aus einer Studie und Angela Evans und Kang Lee ((2013) Emergence of Lying in Very Young Children. Developmental Psychology) hervor. Bei der Studie entdeckte die Psychologen, dass die Kinder die bei einem Test gelogen haben, auch intelligenter waren. Die Kinder entdecken, eine neue Art der Selbstbestimmung, Sie betrachten es als ihr Recht eine Handlung zuzugeben oder nicht. In dieser Phase ist es normal, dass ein Kind steif und fest behauptet einen Keks nicht genommen zu haben, obwohl es ihn noch in der Hand hält.
- Obwohl diese Unwahrheiten nicht böse gemeint sind, verletzen sie Eltern tief. Sie zeigen, dass ein Kind beginnt, sich abzunabeln. Das Kind baut eine Grenze zwischen seiner Realität und der in der die Eltern leben auf.
- Die Diplom-Pädagogin Uta Reimann-Höhn führt aus, dass Kinder etwa mit der Schulreife lernen einzustufen, welche Lügen in Ordnung sind. Ihnen ist nun auch klar, dass Lügen durchschaubar sind und in der Regel nicht akzeptiert werden. In diesem Alter lügen Kinder bewusst. Die Gründe sind Angst vor Strafe, der Wunsch nach Anerkennung, Überforderung, Höflichkeit und Scham.
- Vertuscht Ihr Kind ein Fehlverhalten, weil es Angst vor einer Strafe hat, erklären Sie ihm, dass es keine oder nur eine geringe Strafe bekommt, wenn es ehrlich ist. Versuchen Sie das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken, wenn es immer wieder durch Angebereien versucht Anerkennung zu finden. Lügt ein Kind immer wieder, wenn es um die Erledigung seiner Pflichten geht, ist es mit diesen meist völlig überfordert. Bieten Sie Hilfe an und bürden Sie ihm weniger Verpflichtungen auf.
- Lügen aus Höflichkeit oder Scham ist ein Zeichen von sozialer Kompetenz. Es ist positiv, wenn ihr Kind sich für ein unpassendes Geschenk bedankt oder einem anderen Menschen nicht sagt, dass es ihn hässlich findet. Diese Art von Lügen sollten Sie niemals unterbinden.
- Die Lüge aus Scham zeigt, dass es sich in die Gefühle andere Menschen hineinversetzen kann. Das Kind verschweigt eine schlechte Note, obwohl es keine Strafe befürchten muss. Es schämt sich und hat Angst Sie durch die schlechte Leistung zu verletzen. Hier ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. Einerseits ist der Grundgedanke, etwas zu verschweigen um einen anderen nicht zu verletzen gut. Auf der anderen Seite muss das Kind lernen, sich solchen Konfrontationen zu stellen.
Machen Sie deutlich, dass Lügen langfristig das Vertrauen zerstören, aber meist nur kurzfristig einen Vorteil verschaffen. Die Frage, ob man lügen darf, ist trotzdem nicht eindeutig zu beantworten. Auf jeden Fall sollte sich jeder genau überlegen, ob er lügt oder sich lieber einer unangenehmen Wahrheit stellt. Egal ob Lügen erlaubt oder verboten sind, es ist eine Tatsache, dass eine Gesellschaft, in der nie gelogen wird, nicht möglich ist. Auf der anderen Seite ist Ehrlichkeit wichtig, weil sie die Basis für Vertrauen ist.
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