Gerhart Hauptmann zwischen nationalsozialistischer Zensur und Instrumentalisierung
1862 erblickt Gerhart Hauptmann das Licht der Welt. Begeisterung für die Künste prägt ihn schon früh. Neben einer Bildhauerklasse besucht er regelmäßig das Breslauer Theater und schreibt für die Hochzeit seines Bruders das in deren Rahmen aufgeführte Festspiel "Liebesfrühling".
- Er lässt sich als junger Erwachsener bei einer Mittelmeerreise als Bildhauer in Italien nieder. Als ihm der Einstieg in die dortige Künstlergesellschaft misslingt, kehrt er nach Deutschland zurück, wo er sich dem Theater verschreibt.
- Um 1888 zieht Hauptmann nach Berlin und knüpft dort Kontakte zum naturalistischen Literaturverein. Neben dem Drama "Vor Sonnenaufgang" schreibt er in dieser Zeit "Bahnwärter Thiel - eine novellistische Studie".
- In den 1890er Jahren verfasst er die Dramen "Einsame Menschen", "Der Biberpelz" und "Friedensfest", sowie Komödien, wie "College Crampton". Seinen Durchbruch feiert er jedoch erst mit dem offen sozialkritischen Drama "Die Weber".
- Nach der Jahrhundertwende erscheinen Romane, wie "Der Narr in Chriso Emanuel Quint" oder "Atlantis", das sogar verfilmt wird. Hauptmann erfreut sich damals großer Bekanntheit und erhält renommierte Ehrungen, wie den Nobelpreis für Literatur. In Deutschland sowie den USA erhält er die Ehrendoktorwürde. Als man ihm den Schillerpreis verleihen will, legt der damalige Kaiser Veto ein, da er Hauptmanns sozialdemokratische Kunst verachtet.
- Nach der Machtergreifung Hitlers beantragt Hauptmann die Aufnahme in die NSDAP, erhält aber eine Absage. Die Ideologie des Nationalsozialismus kommt in seinem Werk nicht zum Ausdruck. Das Amt Rosenberg beurteilt seine Schriften 1942 als "kritisch". Er fällt später der Zensur zum Opfer, gleichwohl nutzt das nationalsozialistische Regime seine Werke und seine Bekanntheit, um dem Volk zu gefallen.
- 1946 wird Schlesien polnisch. Hauptmann erkrankt zu dieser Zeit schwer und kann der geforderten Aussiedelung nicht gerecht werden. Er stirbt wenig später vor Ort.
- Die Dramatik bildet den Fokus seines Gesamtwerks, obgleich er sich ebenso an Lyrik und Versepik, sowie erzählender Prosa versucht. In seiner frühen Schaffenszeit prägt der von Sturm und Drang inspirierte Naturalismus sein Werk. In seiner Schaffensperiode nach den Webern wendet er sich mit symbolträchtigen Erzählungen, wie "Die versunkene Glocke" und Legenden, wie "Der Bogen des Odysseus" der Romantik zu. In seiner Spätzeit kehrt er zum sozialkritischen Naturalismus zurückkehrt.
Zu seinen bekanntesten Werken zählt bis heute "Bahnwärter Thiel", das auch Sie mit Sicherheit aus dem Schulunterricht oder dem ein oder anderen Referat kennen. Eine umfassende Analyse des Werks verrät Ihnen einiges über Hauptmanns Weltanschauung und seine Art der Sozialkritik.
Zusammenfassung von Hauptmanns "novellistischer Studie"
In Zusammenfassung ist "Bahnwärter Thiel" eine Novelle, die einen anfangs gewissenhaften Antihelden in seinem Milieu zeigt. Der Tod von Thiels Frau Minna ist auslösendes Moment der Erzählung. Sie lässt ihm einen Sohn zurück, um den er sich zu kümmern verspricht.
- Eigentlich für seinen Sohn Tobias heiratet Thiel bald darauf die gebieterische Lene. Obwohl er sie nicht liebt und nur als Mutterfigur für Tobias benutzen will, gerät er in Abhängigkeit zu ihr. Zusammen mit ihr bekommt er ein zweites Kind. Die Vernachlässigung von Tobias setzt ein.
- Thiel wird zu einem Gefangenen von Situation und Milieu. Lene misshandelt Tobias bald, doch der Bahnwärter nimmt eine passive Rolle ein und kann sich der herrischen Frau nicht erwehren. Zugleich suchen ihn Schuldgefühle heim, weil er Minna versprochen hat, auf Tobias aufzupassen.
- Bei der routinierten Arbeit gibt sich Thiel in seinem Wärterhäuschen alsbald Visionen hin. Er flüchtet sich aus dem hässlichen Milieu und elender Situation in eine Phantasiewelt, wo er zu seiner verstorbenen Frau Minna spricht. Ein Teufelskreis beginnt.
- Als man Thiel ein Grundstück nahe seines Arbeitsplatzes überlässt, reißt die herrische Lene es an sich. Sie mischt sich damit in den einzigen Bereich ein, der Thiel bislang Ruhe vor ihr garantiert hat. Das bedroht Thiels Flucht in die Phantasiewelt, wodurch er immer größeren Hass gegen Lene hegt.
- Die gesamte Familie befindet sich auf Thiels Wärterhäuschen. Als Distanzierung zu Lene und Zuwendung zu seinem Sohn unternimmt er einen Spaziergang mit Tobias. Der drückt auf dem Spaziergang seine Bewunderung für Thiel aus. Zurück am Häuschen muss Thiel arbeiten und bittet Lene, auf Tobias Acht zu geben.
- Bei der Arbeit nimmt der Bahnwärter die Notsignale eines ankommenden Zugs wahr: Die Lok hat Tobias erfasst und er wird ins Krankenhaus gebracht. Thiel flüchtet ein letztes Mal in seine Phantasie, in der er Minna Rache an Lene verspricht.
- Als der Zug Tobias im Sarg zurückbringt, bricht Thiel zusammen. Die Schuld am Unglück gibt er Lene, die sich zurück zuhause, liebevoll um ihn kümmert. Als Arbeiter später des Tages den Leichnam des überrollten Sohnes nach Hause bringen, finden Sie die Leichen von Lene und dem zweiten Kind. Der Bahnwärter sitzt an der Unglücksstelle auf den Gleisen.
Zur Interpretation des Werks betrachten Sie diesen tragischen Inhalt vor dem Hintergrund von Autorengesamtwerk, Entstehungszeitumständen und Epoche.
Epocheneinordnung - "Bahnwärter Thiel" vor Hauptmanns Gesamtwerk
Wie für Sie aus der obigen Inhaltsangabe wahrscheinlich ersichtlich, ist Hauptmanns "novellistische Studie" eine sozialkritische Novelle über die Abhängigkeiten eines Individuums.
- Der novellistische Charakter manifestiert sich in der geringen Personenzahl, dem begrenzten Textumfang und der kurzen Exposition, sowie der Symbolverwendung.
- Die Mischung von Textgattungen prägt Hauptmanns Gesamtwerk und lässt sich auch am "Bahnwärter" nachvollziehen. Er untertitelt das Werk mit dem Begriff "Studie", der einen wissenschaftlich nüchternen Stil zur reinen Milieubeschreibung auf realen Begebenheiten erwarten lässt. Das passt aber nicht zur Gattung der Novelle, für die schon Goethe die "unerhörte Begebenheit" als Hauptelement festhält.
- Als naturalistisches Werk ist der Text Hauptmanns früher Schaffensperiode zuzuordnen, da er sich später zu Gunsten der Neoromantik gegen den Naturalismus wendet.
- Die eingehende Schilderung von Thiels Phantasie und die Verschmelzung von gewöhnlichem Alltag mit ungewöhnlicher Visionshaftigkeit, deutet allerdings Hauptmanns spätere Orientierung Richtung Romantik an. Gerade das Wahnhafte entspricht einem typisch romantischen Thema. So auch die Schattenseite der Seele, die in Thiels Endhandlungen zu Tage tritt.
- Trotz dieser Elemente ist die Novelle vorwiegend naturalistisch. Schon die Entstehungszeit 1888 ermöglicht Ihnen diese Einordnung in Hautptmanns Schaffen. Wie Sie weiter oben gelesen haben, steht er damals nämlich am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere und hat sich gerade an den naturalistischen Kreis Dresden gewandt.
- In dem innerhalb derselben Zeitspanne entstandenen Theaterstück "Vor Sonnenaufgang" beschäftigt er sich ohne Tabus mit Sexualität und Alkoholismus. Diese beiden Bereiche erfasst der Schriftsteller ebenso als Abhängigkeiten, wie in "Bahnwärter" dessen Beziehung zu Lene und seinem Milieu.
In seiner Frühphase erforscht Hauptmann in Zusammenfassung also Abhängigkeiten des Individuums auf naturalistische Weise. Was genau heißt naturalistisch aber?
Individuum in Milieu-Gefangenschaft - naturalistische Aspekte und Interpretation
Der naturalistische Stil äußert sich im "Bahnwärter" schon durch die detaillierte Milieuschilderung des Hässlichen.
- Dieses Hässliche ist, zusammen mit dem Elend der Arbeiterschaft, ein Hauptaugenmerk der naturalistischen Epoche. Sozialkritik ist ein zweiter dieser Aspekte. In "Bahnwärter Thiel" übt Hauptmann diese nicht offen, obgleich sie im hässlichen Ausgang der Novelle genauso anklingt, wie in der anfänglichen Vernachlässigung von Tobias.
- Kritik übt Hauptmann mit der Novelle auch an der Industrialisierung, die zur damaligen Zeit aktuelles Streit- und Angstthema der Gesellschaft ist. Hauptmann macht das Wärterhaus zum Hauptschauplatz seiner Geschichte. Die Lok wird zum wichtigsten Dingsymbol, das an mehreren Stellen großes Unheil über die Welt bringt - als Klimax zuletzt den Tod von Tobias.
- Sogar sprachlich nutzt Hauptmann dieses unheilhafte Dingsymbol mehrmals. Er überträgt zuerst auf Thiel, später auch auf Lene, typische Eigenschaften einer Lok. Diese Metapher nimmt den beiden die Menschlichkeit und macht sie zu Maschinen, die in ihrer Arbeiterroutine einfach funktionieren.
- Thiels Doppelmord ist das Bahnunglück - eine "Entgleisung", wie sie heftiger nicht sein könnte. Der Protagonist wird zu seinem Milieu - der Lok - und kann sich dem nicht erwehren. Auch diese untrennbare Vernetzung und Prägung zwischen Milieu und Individuum ist typisch naturalistisch.
- Letztlich kritisiert Hauptmann mit seinem Lok-Milieu gar nicht wirklich die Industrialisierung als furchteinflößende Veränderung, die Unheil über die Gesellschaft bringt. Er kritisiert das Milieu geprägte Individuum als diese furchteinflößende Macht, indem er den gewissenhaften Thiel zur entgleisenden Lok metaphorisiert.
- Dass die Lok gerade den unschuldigen Tobias überrollt, mag als Kritik an einer Gesellschaft gemeint sein, in der sich gänzlich Unbeteiligte von den Milieu-Umständen "überfahren" lassen müssen.
- Technisch erweisen sich detaillierte Milieuschilderung und chronologische, annähernd unkommentierte Ereignisbeschreibungen im Sekundenstil als wichtigste Naturalismuskomponenten. Auch übergenaue Orts- und Zeitangaben passen ins Bild.
- Die sprachliche Seite realisiert Hauptmann dagegen wenig naturalistisch, indem er untypischerweise adjektivlastig und metaphorisch erzählt. Der dadurch entstehende Abgrund zwischen nüchternem, alltäglichem, hässlichen Milieu im Naturalismusstil und Thiels Phantasiewelt im romantischen Stil betont die Abgründe der Protagonistenpsyche.
In "Bahnwärter Thiel" klingen Hauptmanns Haupteinflüsse Romantik und Naturalismus genauso an, wie sein sozialkritischer Hang. Die Novelle ist daher zu Recht ein Paradewerk seines Gesamtwerks, weil sie ihn als Autor umfangreich wiedergibt.
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